Schaut man sich einige Meldungen und Wortbeiträge aus den letzten Tagen des Jahres an, kann man sich schon ein bisschen die Augen reiben. Die hundert umsatzstärksten Unternehmen Deutschlands konnten ihren Umsatz 2022 um 30 Prozent auf ein Rekordniveau von 1,8 Billionen Euro steigern; fast drei Viertel dieser Unternehmen hätten in den ersten neun Monaten neue Arbeitsplätze geschaffen, meldete die Frankfurter Allgemeine Zeitung und bezog sich auf eine Auswertung des Beratungsunternehmens EY. Auch das Dresdner ifo Institut gab in seinem Konjunkturbericht für Ostdeutschland jüngst Entwarnung. Demnach sei die Wirtschaft dort im gesamten Jahr 2022 sogar ein klein wenig mehr als im Westen gewachsen. Thomas Haldenwang, Präsident des Bundesverfassungsschutzes, sagte gerade, aus den erwarteten Protesten des heißen Herbstes sei allenfalls "ein laues Lüftchen" geworden. Und Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln, gab im ZEIT-Podcast zu Protokoll, er rechne statt mit einem Wutwinter nun sogar mit einem fröhlichen Frühling.

Really? Kein heißer Herbst und kein Wutwinter? Keine Deindustrialisierung und keine neue Massenarbeitslosigkeit? Auch wenn die Inflation freilich mit rund zehn Prozent so hoch ist wie seit 70 Jahren nicht mehr und die Zahl der Firmeninsolvenzen im Schnitt bis zu 14 Prozent zunahm. Stattdessen nun sogar die Aussicht auf einen fröhlichen Frühling?

Politiker werden ja das ganze Jahr kritisiert. Für manches zu Recht, für manches zu Unrecht. Aber sollte man angesichts dieser Meldungen nun nicht einmal fragen: Kann es sein, dass die Ampel-Regierung unter Olaf Scholz doch nicht alles falsch gemacht hat? Kann es sein, dass die Appelle Robert Habecks, kürzer zu duschen und Energie zu sparen, doch nicht so umsonst und lächerlich waren, wie manche unkten? Kann es sein, dass es sogar richtig war, dass sich die drei Regierungspartner im Laufe des Jahres zwar mitunter viel stritten, die jeweiligen Kompromisse wie der zum Tankrabatt, dem 9-Euro-Ticket, den drei Entlastungspaketen und milliardenschweren Hilfspaketen für die Wirtschaft, zu Strom- und Gaspreisbremse und auch unter Mithilfe der CDU zum Bürgergeld im Ergebnis gar nicht so schlecht waren? Weil sie die Gesellschaft im Großen und Ganzen doch zusammenhielt und auch die FDP ihren Teil dazu beitrug.

Das ungeschriebene Krisengesetz der Deutschen

So viel steht am Ende dieses schrecklichen, vom russischen Angriffskrieg auf die Ukraine dominierten Jahres 2022 jedenfalls fest: Auch wenn wir außenpolitisch noch weit davon entfernt sind, auf Frieden in der Ukraine hoffen zu können, innenpolitisch scheinen wir die Krise fürs Erste ganz gut gemeistert zu haben. Das ungeschriebene Gesetz jedenfalls, nach dem die Deutschen durch jede Krise, durch Finanzkrise, Eurokrise, Flüchtlingskrise, Corona-Krise, Energiekrise einigermaßen glimpflich kommen, es hat sich also ein weiteres Mal bestätigt. Obwohl viele fest davon ausgingen, diese Regel käme in diesem Jahr nun endlich einmal doch an ein Ende. 

Das Politikteil - Der Politikpodcast von ZEIT und ZEIT ONLINE: Das war 2022: Ein Rückblick in sieben Stimmen

Einen großen Unterschied aber hat es in dieser jüngsten Krise doch gegeben. Trotz all der positiven Nachrichten, trotz der überraschend stabilen Lage ist unser Krisengefühl nicht verschwunden. Es zeigt sich wahrscheinlich auch in den schlechten Umfragewerten der Ampel. Wir werden dieses Krisengefühl wohl trotz freundlicherer Perspektiven mit ins nächste Jahr nehmen. Vielleicht begleitet es uns auch noch darüber hinaus. Denn Krise ist ja längst kein Ausnahmezustand mehr, sondern vielmehr zu einer Art neuem, ständigem Begleiter geworden. So muss sich Epochenwandel anfühlen. Die Sicherheiten verschwinden zwar, manchen mag dabei Panik überkommen, aber die neuen Realitäten ermutigen auch zu neuem Handeln.

Nach der Krise ist also vor der Krise. Diese Einsicht hat die Politik verändert, sie trat besonnener und vorausschauender auf. Die Bundesregierung agierte frühzeitig alarmiert und kommunizierte auch, dass man Angst habe, die steigenden Energiepreise und die Inflation könnten zu sozialen und politischen Unruhen führen. Annalena Baerbock warnte im Juli – und vielleicht ein wenig polemisch – vor der Möglichkeit von Volksaufständen. Und Olaf Scholz wiederholte umso öfter sein Versprechen, niemand würde alleingelassen. Bei ihm hieß das: "You'll never walk alone." Solche Proteste können das gesellschaftliche Klima im ganzen Land verändern, auch wenn sie nur von einer Minderheit ausgehen. Vor allem in den Jahren nach 2015 und während der Corona-Pandemie konnte man das erfahren.